Liebe Leserinnen und Leser,
vor gut zwanzig Jahren wurde in 1001 Buch 1|99 ein Beitrag von Heinrich Kaulen über »Jugend- und Adoleszenzromane zwischen Moderne und Postmoderne« publiziert. Laut meiner Kollegin Barbara Burkhardt, die am Institut für Jugendliteratur für die Bibliotheken verantwortlich ist, zählt dieser Aufsatz zu den meist nachgefragten der vergangenen Jahrzehnte. Kaulen stellt darin dem sozialkritisch-emanzipatorischen Jugendroman der 1970er- und 80er-Jahre den postmodernen Adoleszenzroman gegenüber, der in den 1990er-Jahren State of the Art war. Erinnern Sie sich an »Cool Girl« von Blake Nelson, Irvine Welshs »Trainspotting« oder Alexa Hennig von Langes »Relax«, Romane, die damals intensiv und teils kontrovers diskutiert wurden? Wenn nicht, können Sie ihre Erinnerung mit Heinrich Kaulens viel zitiertem Beitrag auffrischen; zu finden ist er in der aktuellen elektronischen Beilage »1001 Buch digital plus«. Mit Anna Stemmanns Beitrag kommen Sie in die Gegenwart zurück, sie hat gelesen, was Heinrich Kaulen 1999 noch nicht hat lesen können: die postpostmodernen Adoleszenzromane, erschienen ab den beginnenden 2000er-Jahren. Von denen kennen Sie sicher einige, alle wurden sie auch immer wieder in Beiträgen dieses Magazins zitiert: »Busfahrt mit Kuhn« (2004) von Tamara Bach, »Es war einmal Indianerland« (2011) von Nils Mohl, Kathrin Steinbergers »Manchmal dreht das Leben einfach um« (2015) oder Elisabeth Steinkellners »Rabensommer« (2017), um nur einige zu nennen. Die Protagonist*innen dieser Romane kommen aus unterschiedlichsten Verhältnissen und sind nicht alle in die gleiche Richtung unterwegs. Was sie jedenfalls gemeinsam haben: Sie sind fast erwachsen.
Es trennt sie also nicht mehr viel vom »richtigen Leben« und der »richtigen Literatur«, wie manche früher zu sagen pflegten. Was das richtige Leben betrifft, so sind sich heute auch jene nicht mehr so sicher, die sich früher nicht im falschen wähnten. Und bezüglich der Literatur kann man ja mittlerweile zu sogenannten »All-Agern« greifen, egal ob man nur ein bisschen, fast oder ganz erwachsen ist. Warum man das tun kann, aber besser von Crossover-Literatur sprechen soll, weiß Lena Hoffmann, die ihre Begriffsklärung an einem weiteren wichtigen Buch der 00er-Jahre anschaulich macht: an Markus Zusaks »Bücherdiebin«.
Wie Liesel Meminger müssen Kinder manchmal – im Leben wie in der Literatur – eine unangemessene Verantwortung übernehmen, weil ihre Erwachsenen aus unterschiedlichsten Gründen teilweise oder ganz ausfallen und niemand sonst da ist, der ihre Aufgaben übernehmen kann oder will. Darüber sollte Julia Boog-Kaminski schreiben, über literarische Figuren, denen das passiert, die vor der Zumutung stehen, zu früh und zu schnell erwachsen werden zu müssen. Was die Kulturwissenschafterin, die sich viel mit Kinderpsychoanalyse und Entwicklungstheorie beschäftigt, abgeliefert hat, ist eine extensive Analyse nur eines Buches, das aus der Sicht eines zehnjährigen Jungen erzählt wird, der außergewöhnlichen Belastungen ausgesetzt ist. Es hat mich überrascht und berührt, wie gelassen Julia Boog-Kaminski darüber erzählt, wie sie diesen Text, der mir wie ein Alptraum vorkam, als eine alltägliche Geschichte des Erwachsenwerdens liest.
So oder so – auch in nicht-realistischen Geschichten – ist es gut, wenn man neben einer lieben Familie und guten Freunden auch fähige Lehrer*innen an der Seite hat. Das wissen Harry Potter, Percy Jackson oder Eragon ebenso wie Sonja Loidl, die uns als eine Art Mentorin erläutert, was diese weisen Männer außer einem langen weißen Bart noch mitbringen müssen und wofür sie gut sind.
Wenn von Harry Potter die Rede ist, kann Heidi Lexe nicht weit sein. Sie ist auch die richtige Auskunftsperson zu Serien: egal in welchen Medien, sie kennt alle. Und weiß daher auch, ob und wie ihre Protagonist*innen im Lauf der Zeit, also etwa von Band eins bis sieben oder von Staffel zu Staffel älter werden. Oder auch nicht. Und wie sich das auf die Leser*innen und Zuseher*innen auswirkt, wenn sie zig Seasons, Staffeln oder Bände nicht im Lauf eines oder gar mehrerer Jahre schauen oder lesen, sondern an einem Wochenende. Um wie viele Jahre kann man an drei Tagen älter und erwachsener werden? Ist man dann alt genug für jene Bücher, die im Regal ganz oben stehen?
Dass »so alt« oder »so jung« ebenso auch eine Frage der Perspektive ist, wie »so groß« oder »so klein« – und beides oft mit Kränkungen verbunden –, macht Peter Rinnerthaler in seinem Essay über Blickrichtung und Rauminszenierung in Bilderbüchern anschaulich. Nach oben schauen oder im Eck stehen müssen immer eher die Kleinen, egal ob Körper oder Lebensjahre der Maßstab sind.
Zwischen diesen schönen Beiträgen über fast Erwachsene stehen die Alten herum, wie sie das in der Kinderliteratur häufig zu tun pflegen: Verrückte Großväter, eigenartige Onkel, neue Partner*innen eines Elternteils, liebe Grundschullehrerinnen. Diese Auswahl hätte man leicht erweitern können: um den schrulligen Hausmeister, die grantige Lehrerin, die zugeneigte Bibliothekarin, den spinnerten Nachbarn … Für sie und andere Randfiguren war aber kein Platz mehr, in 1001 Buch stehen halt immer die fast Erwachsenen im Mittelpunkt.
Über unterschiedlichste Exemplare dieser Art ist in Büchern zu lesen, die im Besprechungsteil kritisch gewürdigt werden: Über Winzi und Anke, die jüngsten ihrer Familien, Lulu, die mittlere von dreien, oder Ben und Theo, die auf die Sekunde gleich alt sind. Lesend kann man sie begleiten und sehen, wie sie ein Stück älter und erwachsener werden. Das ist oft nicht nur unterhaltsam, sondern auch aufschlussreich für das eigene Leben. Egal, wie alt man ist.
Bleiben Sie uns gewogen. Und gesund.
Franz Lettner
Aktuelle Neuerscheinungen
Folgende Titel werden in dieser Ausgabe von 1001 Buch besprochen:
Angel, F.: Das tut weh und ist schön
Backer, J. B.: Küsse für Jet
Baldy, J.: Paul
Baltscheit, M. & S. Brandstätter (Ill.): Ben und Teo
Bardola, N. u.a.: Wie Kinder Bücher lesen
Bardugo, L.: Das neunte Haus
Belanger, M.: 254 Tage mit Jane Doe
Bergmann, S.: Der Junge aus dem Trümmerland
Böge, D. & E. Klever: 189
Brüder Grimm & Pacheco, G.(Ill.): Die Bremer Stadtmusikanten
Bydlinski, G. & K. Sieg (Ill.): Kolo, Nono nd der Trollgnomfrosch
Camillo, K. di: Louisianas Weg nach Hause
Clément, F.: Fabelhaft getarnt
Collins, S.: Die Tribute von Panem X
Dahl, R. & P. Bagieu (Ill.): Hexen hexen
De Kinder, J.: Keine Angst, Großer Wolf
Dekko, E.: Sommer ist trotzdem
de Vries, D. R. & F.Rieder (Ill.): Der Zyklop
Drösser, C. & N.Coenenberg (Ill.): 100 Kinder
Duprat, G.: Wovor haben Monster Angst?
Englebert, J.: Ich will ein Schockocroissant
Friemel, M. & J. Gleich (Ill.): Lulu in der Mitte
Gilmore, S.: Die kleine Ärztin und das furchtlose wilde Tier
Grant, K.: Der Hof der Wunder
Gréban, Q.: Wolle und ich
Gruß, K. (Hg.): Wer tanzt schon gern allein?
Hardinge, F.: Schattengeister
Höfler, S.: Helsin Apelsin und der Spinner
Holzapfel, F.: Böse Brummer
Jägerfeld, J.: Comedy Queen
Janisch, H. & H. Bansch (Ill.): Angsthase
Jongeling, P.: Hattest du eigentlich schon die Operation?
Kaiblinger, S. & F. Bertrand (Ill.): Vincent flattert ins Abenteuer
Kastel, M.: C’est la fucking vie
Kaurin, M.: Irgendwo ist immer Süden
Kehn, R.: Winzi
Khider, A.: Palast der Miserablen
Kreslehner, G.: Nils geht
Kuhl, A.: Manno!
Lehmann, A. & Kasia F. (Ill.): Sabber Schlabber Kussi Bussi
MacLachlan, P. & F. Sanna (Ill.): Meine Freundin Erde
Marshall, T.: Was unsere Welt zusammenhält
McCauley, K.: You are not safe here
McGhee, A. & Joe B. (Ill.): Liebe Schwester
Melece, A.: Der Kiosk
Moeyaert, B.: Bianca
Mourlevat, J.: Jefferson
Neeman, S. & Albertine (Ill.): Sie kommen!
Nilsson, M.: So viel Liebe
Obrecht, B. & J. Völk (Ill.): Dann gehe ich jetzt, sagte die Zeit
Oetken, M. u.a.: Klaus Ensikat. Stefanie Harjes. Susanne Janssen
Oftring, B. & T. Schwietzer (Ill.): Wölfe
Pabst, I. & M. Zaeri (Ill.): Joshua
Poppe, G.: Alice Littlebird
Pauli, L. & K. Schärer (iIl.): Ei, Ei, Ei!
Pullman, P.: Ans andere Ende der Welt
Quitterer, S.: Weltverbessern für Anfänger
Rahlens, H.: Das Rätsel von Ainsley Castle
Rogé: Rogers Pommesbude
Ryeo-Ryeong, K.: Eins zwei. Eins zwei drei
Schroeder, S.: Mein Sommer mit Anja
Schwalbe, L.: Ida und die Welt hinterm Kaiserzipf
Sieben, M.: Das Jahr in der Box
Till, J. & R. Frey (Il..): Cornibus & Co
Tokarczuk, O. & J. Concejo: Die verlorene Seele
Vermeire, K.: Im Garten von Monet
Vries, D. R. de & F. Rieder (Ill.): Der Zyklop
Wheatle, A.: Home Girl
Wirbeleit, P. & Ulf K.: Alan C. Wilder Ltd.
Woldańska-Plocińska, Ola: Tiere haben Rechte
Woltz, A.: Sonntag, Montag, Sternentag
Yoon, D.: Frankly in Love
Zenzius, Pierre: Gipfelstürmer
Die Besprechungen können Sie in absehbarer Zeit auch in der Rezensionsdatenbank Rezensionen online open lesen