Liebe Leserinnen und Leser,
stellen Sie sich ein winziges Ruderboot vor, so weit draußen auf dem Meer, dass in alle Richtungen bis zum Horizont nur Wasser und Himmel zu sehen sind. Im Boot, das infolge »unvorhersehbarer Anomalien im Strömungsverlauf« vom Kurs abgekommen ist, sitzen ein Bär mit deutlich mehr Zuversicht als Verstand und ein Junge, der schnell mal "einfach rüber auf die andere Seite" wollte, "bitte", und nach einem Tag und einer Nacht auf hoher See ein wenig ungnädig ist. Um ihn aufzuheitern, schlägt der Bär vor, Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst zu spielen, mit der Einschränkung, nur Dinge außerhalb des Bootes zu bezeichnen, sonst "wäre es viel zu schwer". Nach mehreren Runden "blau", "Himmel" / "Wasser" hat sich die Stimmung des Jungen nicht merklich verändert. Wäre Willy Puchner dabei gewesen, die Bordunterhaltung wäre besser gelaufen. Allein acht Blautöne identifiziert der Fotograf, Illustrator und Erzähler unter seinen sechzehn "Farben des Himmels": "Edo-Blau, Komi-Blau, Sango-Blau, Bodo-Blau, Irisch-Blau, Grieschisch-Blau" und "Lao-Blau" (siehe Illustration auf Seite 4), mit dieser Palette reist er einmal um die Welt. Das hätte dem Bären und dem Jungen aus Dave Sheltons Buch "Bär im Boot" (Carlsen 2013) vermutlich gefallen. Die beiden hätten auch die Vögel gemocht, die Anna Gusella auf der 1002. Seite hier nebenan in ihre Wolken-/Bäume in den Himmel gesetzt hat. (Und das Ich-sehe-was-Spiel wäre abwechslungsreicher geworden!)
Der Himmel und das Meer spielen auf den folgenden Seiten eine nicht unerhebliche Rolle. Weil 1001 Buch diesmal ganz in BLAU daherkommt. Das wird nicht eintönig, keine Sorge. Willy Puchner hat mit seinem Gefühl für Farben schon angedeutet, was möglich ist, schaut man genau. Mit ihm beginnt Silke Rabus dann auch ihren Gang durch blau eingefärbte Bilderbuch-(Fantasie-)Räume, begegnet der Sehnsucht, der Stille und der Nacht, gelangt bis zum Meer, in dem Marlene Zöhrer noch einen separaten Tauchgang macht. In die entgegengesetzte Richtung startet Claudia Sackl, "on a sunbeam" reist sie ins Blau der unendlichen Weiten des Alls. Und erkundet auf der Spur junger Weltraumreisender Räume jenseits unserer Zeit und Ordnung.
Jede*r weiß, dass eine Fahrt ins Blaue eine unsichere Sache ist, auch wenn sie nicht ferne Sterne, sondern etwa den Süden Deutschlands anvisiert. Warum junge Held*innen einen Roadtrip unternehmen und ob sie am Ende eine blaues Wunder erleben, weiß Nicole Kalteis. Sie ist mitgefahren hinein ins Ungewisse und dabei ganz nüchtern geblieben. Für die Mädchen und Jungs, die sie lesend begleitet hat, würde ich diesbezüglich nicht meine Hand ins Feuer legen. "Alkohol fließt", weiß auch Chrstina Pfeiffer-Ulm, "gesellschaftsfähig in viele Coming of Age Geschichten ein", und sie beschreibt, wie darüber erzählt wird: Vom Vorglühen bis zum Absturz ist sie dabei und lässt auch den Kater danach nicht aus. "Der Rausch", schreibt sie am Ende ihres Beitrags, "ist es auch, der die Figuren ins Erwachsenenleben hineinspült. Beides schmeckt bekanntlich bitter und selten nach Erdbeermarmelade.
Das lässt sich auch über Hämatome sagen, die Susan Kreller "Verwandlungskünstler", nennt: "Meistens gehen die Farben ineinander über wie auf Aquarellbildern, und oft genug sind diese Einblutungen so tief, dass sie bis weit unter die Seelenhaut reichen." Die Autorin hat schon in ihrem beeindruckenden Debüt "Elefanten sieht man nicht" dieserart "Spuren von etwas zutiefst Beunruhigendem" ausgelotet, in ihrem Beitrag kartografiert sie blaue Flecken in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur. So viel Ernüchterung und Schmerz. Linderung verspricht die Blaue Blume. Michael Hammerschmid hat sie gepflückt, auf dem Weg zu einer romantischen Ritterburg, die eine wichtige Zwischenstation zum Kindergedicht der Gegenwart ist, wo wir am Ende mit dem Deuter landen. Der auch Dichter ist: Gerade hat Michael Hammerschmid einen neuen Kinderlyrikband publiziert, eine Rezension können Sie im Heft lesen.
Der Strömungsverlauf der Geschichten dieser Ausgabe von 1001 Buch war nicht vorhersehbar, der letzte Blick nach oben dagegen sehr. Von dort holen Heidi Lexe und Klaus Nowak nämlich das Blaue herunter. Lügen – ist das nicht eine Spielart des Erzählens, fragen sich die beiden. Ihre Gewährsleute: ein paar Kinder und ein Hund, ein Dichter und ein berühmter Baron, der seit gut 200 Jahren auf einer Kanonenkugel durch die Lüfte fliegt. Apropos: Was machen Figuren eigentlich, wenn sie von der Bühne eines Buches abtreten? Treiben Sie bis in alle Ewigkeit im Weltall oder auf dem Meer? Machen Sie blau? Nils Mohl hat eine Antwort auf diese Frage.
Den allerletzten Punkt setzt Tamara Bach, es ist ein Ausrufezeichen. Zuerst wird es noch einmal bitter, wenn sie die blaue Stunde verortet. Dann feierlich: Michael Schmitt laudatierte die Berliner Autorin, die 2021 mit dem James Krüss Preis für internationale Kinder- und Jugendliteratur ausgezeichnet wurde. Und schließlich wird es innig: in jener Liebeserklärung an die Sprache, die Bach im Rahmen der Preisverleihung als Dank gesungen hat.
Fehlt nur noch ein bisschen Sentimentalität – die kann ich liefern, indem ich über Veränderungen in der Redaktion berichte: Franz Derdak ist mit Jahresende 2021 aus dem Redaktionsteam ausgeschieden. Für seine jahrzehntelange Mitarbeit danke ich ihm und bin froh, dass er uns weiterhin mit Rezensionen beliefern wird.
Es geht jedenfalls weiter. Auch wenn wir mit der nächsten Ausgabe thematisch in die Krise schlittern. Hauptsache, Sie bleiben uns gewogen.
Franz Lettner
"Guckt mal, was für blaue Flecken"
Susan Kreller über Kinder- und Jugendbücher mit Hämatomen
Blaue Flecken sind blau. Manchmal jedenfalls. Zwischendurch. Genau genommen sind Hämatome Verwandlungskünstler. Wenn sie nach einem Stoß, Schlag oder Sturz auf dem Körper erscheinen, zeigen sie sich zunächst in Rot, dann in Dunkelrot-Blau, später in Braun-Schwarz, noch später in Dunkelgrün und schließlich in Gelb-Braun. Meistens gehen die Farben ineinander über wie auf Aquarellbildern, und oft genug sind diese Einblutungen so tief, dass sie bis weit unter die Seelenhaut reichen.
So vielfältig koloriert diese Hämatome sein können, so vielfältig sind auch die Gründe für ihre Entstehung. Selten, sehr selten, sind diese Gründe gut – allenfalls dann, wenn ein fröhliches Abenteuer im Spiel ist, ein ausgelassenes Herumtollen im Freien oder auch mal eine Fahrt mit einem kühn geliehenen Lada durch Brandenburg. Manchmal sind Hämatome Unfällen geschuldet, zuweilen begleiten sie Krankheiten. Nicht selten erzählen blaue Flecken aber von Gewalt. In Büchern für ein junges Lesepublikum ist das oft häusliche Gewalt, die Kindern und Jugendlichen von ausgerechnet jenen angetan wird, die sie eigentlich beschützen und vor Verletzungen aller Art bewahren sollten: von Eltern und Verwandten. ...
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Aktuelle Neuerscheinungen
Folgende Titel werden in dieser Ausgabe von 1001 Buch besprochen:
Acosta: Die Sommergäste. Las visitas del verano
Allen: Tage der Mondschnecke
Bach: Das Pferd ist ein Hund
Balàka: Dicke Biber
Becker & Wenzel & Jansen (Ill.): Was ist eigentlich dieses LGBTIQ*
Berbig & Pin (Ill.): Tapetentier und Holzvogel
Biederstädt: Das Wetter
Blesken: Mission KoloMoro
Bohlund: Die unbekannte Astrid Lindgren
Bonato: Toubab im Senegal
Clayton & andere: Blackout
Damjan & Kuhlmann (Ill.): Der Clown sagte Nein
Dobrot u.a.: Wenn ich Flügel hätte
Dubuc: Bär und das Murmeln im Wind
Duda: Eins über mir
Emmett & Mantle: Der Sumpfkönig
Favilli: Good Night Stories for Rebel Girls. 100 Migrantinnen
Funke: Drachenreiter
Gardner: Unsichtbar im hellen Licht
Geest: Der Urwald hat meinen Vater verschluckt
Gier: Vergissmeinnicht
Hammerschmid & Telleria (Ill.): wer als erster
Harkness: Wolfi ist hungrrrig!
Horvath: Marthas Boot
Hotchner: Die erstaunlichen Abenteuer des Aaron Broom
Hub: Lahme Ente, blindes Huhn
Hula & Koch (Ill.): Räuberhauptmann Tjamme
Jahrbuch der GKJF, 2021: Klänge
Kabengele u.a.: Black Heroes
Karimé & Akkordeon (Ill.): Das schönste Zimmer in meinem Kopf
Kentrić: Balkanalien
Klein & Stefoff: How to Change Everything
Kordon: Und alles neu macht der Mai
Larkin: Pri und der unterirdische Garten
Leeuwen: Als ich mal
Lehman: Das rote Buch
Litwina & Desnitskaya (Ill.): Von Moskau nach Wladiwostok
Mawil: Mauer, Leiter, Bauarbeiter
Mawil: Power-Prinzessinnen-Patrouille
Miller: Hörst du, wie der Himmel singt?
Morpurgo: Der Leuchtturmwärter und ich
Ness: Chaos Walking
Nielsen: Optimisten sterben früher
Paluch & Sperber (Ill.): Die besten Weltuntergänge
Parker, Metcalf & Attia (Ill.): Sonne, Wind und Regen
Posthuma: Baby & Solo
Poznanski: Shelter
Raubaum & Seifert (Ill.): Mit Worten will ich dich umarmen
Reynolds & Kendi: Stamped
Schulz: Therese
Snyder & Krug (Ill.): Über Tyrannei
Stanišić & Jakobs (Ill.): Panda-Pand
Székessy: Kleine weite Welt
Thor: Der Sohn des Odysseus
Tizabi: Revolution Morgen 12 Uhr
Vry & Dean (Ill.): Das Buch der Labyrinthe und Irrgärten
Ward & Berg (Ill.): Eine Reise durch die griechische Mythologie
Zeise: Balto & Togo
Die Besprechungen können Sie in absehbarer Zeit auch in der Rezensionsdatenbank Rezensionen online open lesen