2|22
KRISE
Krisen sind als kurzfristige oder länger andauernde (emotionale) Ausnahmesituationen unvorhersehbar, unübersichtlich, mitunter sogar chaotisch. Der Akt des Erzählens bringt Ordnung und Struktur in die Fülle an Emotionen, Informationen und Ereignisse. (Marlene Zöhrer)
Krisen sind dem Heranwachsen immanent: Erschütterungen rund um Selbstbild und Identität, um Freund*innen und Status, Familie und Zukunft rütteln und zerren, reißen aus der täglichen Routine, mobilisieren aber auch Kraftreserven, verschieben und weiten Grenzen. Initiieren unvermutete Lösungsansätze. Es gilt, das Steuer in die Hand zu nehmen. (Ela Wildberger)
Mit einundzwanzig bin ich für ein halbes Jahr auf Reisen gegangen. Mit im Gepäck hatte ich ein selbstbedrucktes T-Shirt mit der Aufschrift: "Things are getting worse. Please send chocolate". (Elisabeth Steinkellner)
Für viele Menschen gewann das Spazieren [in der Krise] existenzielle Bedeutung, weil es den immer enger zusammenrückenden eigenen vier Wänden die raumgreifende Bewegung entgegensetzte – Spazieren als eine (zeitlich beschränkte) Daseinsform jenseits der Krise also, und zugleich als Strategie, diese zu verarbeiten. (Manuela Kalbermatten)
Der Wind weht in den Weiden und in vielen anderen Texten. Bevorzugt in kritischen Momenten. Als jäh losbrechender, unberechenbarer Sturm, der Zerstörung bringt, oder als »Wind of Change«, der uns frische Luft atmen lässt. (Klaus Nowak)
Inhalt
Die 1002. Seite
von Jutta Bauer
ist Franz Lettner
Auf die Krise, fertig, los
von Marlene Zöhrer
Please Send Chocolate
von Elisabeth Steinkellner
Schlimme Zeiten
Wie Krisen im Bilderbuch in Szene gesetzt werden. Von Silke Rabus
Krise als Türöffner
von Ela Wildberger
Aus dem Rahmen fallen
Martin Reiterer über Darstellungsmöglichkeiten von Krisen in Comics
Manuela Kalbermatten über Geher*innen in der (Jugend)Literatur
Wenn der Wind weht
Klaus Nowak über folgenschwere Stürme im Bilderbuch
Einander begleiten
von Kathrin Wexberg
PETER PANdemie und seine Freunde
von Leonora Leitl
Fledermausmenschen auf dem Mond
Patrick Danter über Fake News
Schuften, Schlafen, Schweigen
Sonja Loidl über Flüche in der aktuellen Phantastik
Wenn Wünschen nicht mehr hilft …
Christina Pfeiffer-Ulm über Krisendramaturgie & Frauenfiguren in Julie Völks Märchenband
Warum weiß die das?
Andrea Kromoser über »Mit Worten will ich dich umarmen«
Handarbeit & Kopfreisen
Simone Weiss über ausgezeichnete Sachbücher
Wer bin ich? Wer will ich sein?
Nils Mohl antwortet. Die Fragen stellt Heidi Lexe
Den Krieg erzählen
ist zeitlos
"Nicky & Vera" von Peter Sís
wurde in der grund_schule der künste gelesen
Liebe Leserinnen und Leser,
diese Ausgabe von 1001 Buch wurde im November 2021 geplant, kurz bevor in Österreich der vierte Lockdown verfügt wurde. Die Covid-19-Pandemie war damals schon mehr als eineinhalb Jahre alt. Kann man noch von einer Krise sprechen, wenn manche sich schon daran gewöhnt haben? In der Redaktion waren wir jedenfalls einig, dass das Frühjahr 2022 der richtige Zeitpunkt wäre für ein »Krisenheft«. Bis dorthin, dachten wir, sei die Pandemie entweder eingedämmt oder zumindest vorübergehend, bis zum nächsten Spätherbst, zum Vergessen. Und wir könnten uns also im wirklichen Leben den gesellschaftlichen Folgen dieser globalen Krise widmen und Sie mit den individuellen Krisen konfrontieren, mit denen sich die Kinder- und Jugendliteratur erzählend auseinandersetzt.
Wir hatten recht damit – lagen aber doch ganz falsch. Am 24. Februar begann der großangelegte russische Angriff auf die Ukraine, ein lange schwelender Konflikt, auch Ukraine-Krise genannt, wurde zum Krieg. Mit entsetzlichen Folgen. Krieg aber ist auf den folgenden Seiten kaum Thema. Die meisten Beiträge waren Ende Februar schon unterwegs in Richtung Redaktion, auch Jutta Bauer hatte ihre 1002. Seite schon fertig. Um ein Blatt zur Krise hatte ich die Hamburger Illustratorin gefragt, weil sie mit ihren »Corona Diaries« (erschienen 2021 im Kibitz Verlag) Erfahrung in der Darstellung von Krisenzeiten gesammelt hatte. Kurzfristig hat sie dann aber eine zweite Zeichnung nachgeliefert. Die ursprüngliche ist auf dem Cover gelandet, weil sie für das Heft steht. Die zweite auf der 1002. Seite, weil sie die gegenwärtige Situation auf den Punkt bringt. Für beide danke ich Jutta Bauer sehr.
»Krise« also: der Begriff wird in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen gebraucht, in diversen Jargons, etwa dem politischen, in der Alltagssprache. Immer bezeichnet er die Störung eines eingespielten Systems. Die Störung sorgt dafür, dass Muster oder Abläufe nicht mehr greifen, neue Lösungen gefunden werden müssen. Das kann kurzfristig eine erhebliche Belastung oder sogar Überlastung zur Folge haben, für Hilflosigkeit und Angst sorgen, unter Umständen ein Trauma auslösen. In den seltensten Fällen ist ein Buch die Lösung einer Krise. Einem Kind, dem gerade die Oma weggestorben ist, drückt man nicht zuerst ein Bilderbuch in die Hand, einen Jungen, der von der ersten Liebe verlassen wurde, schickt man nicht in eine Buchhandlung, ein Mädchen, das gemobbt wird, nicht in die Bibliothek. Menschen in einer Krise brauchen unmittelbar Beistand. Man muss ihnen zuhören, ihnen helfen, für ihre Krise Worte zu finden, Erklärungen, mögliche Lösungen. Man muss gegebenenfalls für professionelle Hilfe sorgen. Ich halte viel von Büchern, aber in einer Krise zählen die helfende Hand und das gesprochene Wort.
Ist das gesagt, dann können wir über Literatur reden. Sie ist unbedingt brauchbar für davor und danach. Geschichten können die Grundlage dafür sein, dass man auf manche Krisen ein bisschen vorbereitet ist, sie in der Nachschau besser versteht. Vielleicht können sie manchmal sogar in der Krise für die nötige Entlastung sorgen, eine Auszeit ermöglichen. Romane sind keine Gebrauchsanweisung, liefern keine Lösungen. Aber sie können helfen, die Komplexität der Welt zu akzeptieren, auf Überraschungen gefasst zu sein, ein paar grundsätzliche Überzeugungen zu etablieren. Etwa jene, dass es nach einer Krise meist weitergeht, oft so gut wie vorher, vielleicht mit einem anderen Kuchen auf dem Teller. Dass Reden hilft, bisweilen auch Bewegung, und dass Gedichte manchmal viel besser sind als gar nichts. Dass Tote nicht wieder lebendig werden, man aber ohne sie zurecht kommen kann …
Im folgenden Magazinteil sind fast nur Geschichten über Protagonist*innen zu finden, die in eine Krise geraten (sind), unruhige oder schlimme Zeiten erleben. Lesen Sie, wie es den Kindern und Jugendlichen dabei geht, wie sie reingeraten, fast scheitern und doch durchkommen, was ihnen hilft oder auch nicht. (Manchmal ist Schokolade ein Schritt in die richtige Richtung.) Und erfahren Sie dabei nicht nur, wie Autor*innen und Illustrator*innen Krisen erzählen, sie anschaulich machen, sondern auch, dass Lachen hin und wieder nicht schadet, wenn es kriselt. Allerdings hilft es auch nicht gegen jene Erzählungen, die gerade in Krisenzeiten viel Zuspruch finden, sogenannte Verschwörungstheorien.
Wie immer in der zweiten Ausgabe des Jahres gratulieren wir den Preisträger*innen des Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreises. Bemerkenswert: Alle vier 2022 ausgezeichneten Bücher sind illustriert: eine Sammlung von Märchen der Brüder Grimm, zusammengestellt und illustriert von Julie Völk, Gedichte und Gedanken von Lena Raubaum, die Katja Seifert bebildert hat, eine »Teenager-Symphonie« von Nils Mohl, illustriert von Regina Kehn, und ein Sachbuch über Kraken von Michael Stavarič mit Bildern von Michèle Ganser. Zu allen Büchern gibt es Lobeshymnen. Beides lege ich Ihnen ans Herz.
Nicht nur gelobt wird naturgemäß im Besprechungs_teil, das ist aber auch nicht die Aufgabe literarischer Kritik. Sicher ist: für alle Leser*innen wird sich unter den rezensierten Neuerscheinungen des heurigen Frühlings ein passendes Buch finden. Und das ist jedenfalls unsere Aufgabe in der Literaturvermittlung: Die richtigen Geschichten für jede*n einzelne*n Leser*in zu finden. Wenn das klappt, löst es zwar nicht unbedingt die kleinen und ganz sicher nicht die großen Krisen. Aber wir sind ja nicht nur Literaturkritiker*innen und -vermittler*innen.
Kommen Sie gut durch den Sommer.
Und bleiben Sie uns gewogen.
Franz Lettner
Lauf einfach. Lauf und lauf und lauf und lauf');">Lauf einfach. Lauf und lauf und lauf und lauf
Manuela Kalbermatten über Geher*innen in der (Jugend)Literatur
"Stay the f*** at home!", lautete die Aufforderung in den sozialen Medien während der ersten Covid-19-Welle im Frühling 2020. Von Christopher John Franklin stammt der dazu passende Song: "The only way to slow it down / is isolate, not roam, / please help the world / get back on track / and stay the f*** at home." Der Schweizer Komiker Roger Wicki schließlich adaptierte gar die legendäre Wutrede des FC-Bayern-Trainers Giovanni Trappattoni, um die Anordnung des Bundesrats – "Alle musse bleiben zu Hause!" – durchzusetzen, und redet sich dabei in Rage: "Ich habe gesehen viele Seniore nach diese Weisung. Ich habe auch gesehen viele Junge nach diese Weisung! […] In diese Situatione waren viele Persone dumm wie eine Flasche leer! Spaziere die Junge, spaziere die Alte!" (Siehe auf youtube)
In der Tat schien es, dass in der Pandemie so viel spaziert wurde wie nie zuvor, vor allem während der Lockdowns, die an Freizeitbeschäftigungen nicht viele Alternativen boten. Anstatt sich in der Beiz zu treffen, promenierte man zu zweit mit Abstand oder allein durch die Quartiere und hinaus ins Grüne; neben den Feldwegen blieben bei hohem Personenaufkommen "Corona-Schneisen" im Gras. Dabei diente der Spaziergang nicht nur dazu, die plötzlich unverplanten Stunden zu füllen oder sich auf relativ sichere Weise mit anderen zu treffen. Für viele Menschen gewann das Spazieren existenzielle Bedeutung, weil es den immer enger zusammenrückenden eigenen vier Wänden die raumgreifende Bewegung entgegensetzte – Spazieren als eine (zeitlich beschränkte) Daseinsform jenseits der Krise also, und zugleich als Strategie, diese zu verarbeiten. Keiner versteht diese krisenbedingte Dringlichkeit des Gehens besser als Will, der 16-jährige Ich-Erzähler in Alison McGhees Jugendroman "Wie man eine Raumkapsel verlässt" (2021). Seine mäandernden Gänge durch Los Angeles sind pure Überlebenstaktik: "Wie übersteht man das, wenn einem alles über den Kopf wächst? Frag mich, ich sag’s dir: Laufend. ›Lauf einfach‹, würde ich dir sagen. ›Lauf. Lauf und lauf und lauf und lauf und lauf.‹" (Alison McGhee: Wie man eine Raumkapsel verlässt. Aus dem Englischen von Birgit Kollmann, München: dtv 2021 [o.e. 2018], S. 123)
Was genau aber bedeutet das? Ist Laufen dasselbe wie Spazieren? Wann haben wir es mit einem Läufer, wann mit einem Spaziergänger oder gar einem "Flaneur" zu tun? Und wer geht eigentlich zu Fuß in der Literatur herum? Sind es, auch jenseits der Krise, tatsächlich "die Alten" und "die Jungen"? Warum sind sie unterwegs? Und wohin?
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Aktuelle Neuerscheinungen
Folgende Titel werden in dieser Ausgabe von 1001 Buch besprochen:
Adichie: Warum ich Feministin bin
Almond: Bone Music
Bauer & Zając (Ill.): Monsterschreck
Bertram & Horst Hellmeier (Ill.): Mega dumm gelaufen / Mega fette Beute
Bizouerne & Rodriguez: Barnabas
Boie: Heul doch nicht
Bonilla: Was für ein komischer Vogel!
Brandis & Kaminski: Drachendetektiv Schuppe
Buglife & Lan: Insekten retten die Welt
Colfer & Jeffers: Ein ziemlich unsichtbarer Freund
Comeau: Malagash
Damm: Der Wunsch
Dufft: Tomatentage mit Tinka
Elzbieta: Floris & Maja
Fehr & Kolly: Wird schon schiefgehen
Friemel & Gleich: Oma Erbse
Fühmann & Gleich: Die Geschichte vom kleinen Und
Häfner & Scheier: Der Code des Lebens
Horst & Zaeri (Ill.): Manchmal male ich ein Haus
Kappacher: Das Wort mit Sch...
Kaster: Das geheimnisvolle Leben der Kröten
Katz & Schwalbe (Ill.): Gaudi
Kelly: Die Nelsons greifen nach den Sternen
Kermani: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen
kinderundjugendmedien.de
Konstantinov: Alles Geld der Welt
Kramer: Wisperwasser
Kröner & Braun: Der Billabongkönig
Laibl & Jegelka: WErde wieder wunderbar
Lim: Die sechs Kraniche
Majewski: Kann unsere Erde fühlen?
Morosinotto: Shi Yu
Mühle: Als Papas Haare Ferien machten
Muller: Unser Garten
Nielsen: Die gigantischen Dinge des Lebens
Nilsson & Kuhl: Sommer mit Krähe
Pantermüller: Die außergewöhnlichen Fälle der Florentine Blix
Parkos: Mätsch!
Petry: Harriet Tubman
Piuk & Palacio: Rotkäppchen rettet den Wolf
Julya Rabinowich: Dazwischen: Wir
Rinck & van der Linden: Bob Popcorn (Bd. 1 & 2)
Sala: Heute pflanz ich, morgen koch ich
Sigunsdotter & Eriksson: Neele Nilssons Geheimnisse
Sharif: Ey hör mal!
Sierk: Bösewicht, Sorgenkind, Alltagsheld
Sís: Nicky & Vera
Slegers: 16x zum Himmel und zurück
Sokolowski & Czichy: Wildes Leben auf der Wiese
Šteger: Als der Winter verschwand
Steinkellner & Roher: Guten Morgen, schöner Tag!
Steffinger: Monsteroma
Travnicek & Michael Szyszka (Ill.): Harte Schale, Weichtierkern
Tucker & Swaney: Ein Garten für uns
Zamolo: Jeden Tag Spaghetti
Ziegler: Hühner, Hühner, Hühner
Zipfel & Davies: Brummps
Die Besprechungen können Sie in absehbarer Zeit auch in der Rezensionsdatenbank Rezensionen online open lesen