Inhalt 
1002. Seite
Von Robert Göschl
Von Franz Lettner
Noch mal!
Andrea Kromoser über Verzögerungstaktiken & Schlafengehrituale in Gute-Nacht-Bilderbüchern
Susan Kreller über Darstellungen und Funktionen der Nacht im Kinderbuch
Durch die Nacht im Bilderbuch
Von Claudia Sackl
Verirren ist menschlich
Dokumentation einer Online-Diskussion zwischen Carina Kargl und Peter Rinnerthaler
Durch die Nacht kommen
Anna Stemmann über Bewegungsrichtungen im Dunkeln
Die Farben der Nacht
Von Silke Rabus
Die Nacht der Augen und das wahre Sehen
Heidi Lexe über märchenhaft-mythische Blindheit als literarisches Motiv
Angsteinflößende Spannung
Elisabeth von Leon über den Thriller
Alles nur geträumt
Christina Ulm über den Traum in der Kinder- und Jugendliteratur
Erzählen hat mit Geduld zu tun
Stian Hole, seine Übersetzerin Ina Kronenberger und die Lektorin Christiane Schwabbaur
& Besprechungen aktueller Neuerscheinungen
Nachzulesen unter www.rezensionen.at
Guten Abend, liebe Leserinnen und Leser,
ist wohl die angemessene Begrüßung für eine Ausgabe, in der die Zeitspanne zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang im Mittelpunkt steht. Naturgemäß ist es in der Nacht mehr oder weniger dunkel, was aber ganz und gar nicht heißt, dass es nichts zu sehen gäbe. Zwar sind die meisten Menschen der Meinung, dass zumindest Kinder in der Nacht zu schlafen haben, als Handlungsraum ist diese aber auch aus der Kinderliteratur nicht wegzudenken. »Wo Nacht ist«, schreibt Susan Kreller in ihrem Beitrag, »beginnen die Geschichten. Und manche Geschichten beginnen mit der Nacht.«
Die Geschichte dieses Heftes beginnt auf der 1002. Seite mit einem Blick auf Geschöpfe der Nacht – oder vielmehr jene, die bei Robert Göschl, der sich mit Monstern gut auskennt, ihr Unwesen treiben. Wenn wir uns vom Nacktnachtmar erholt haben, machen wir noch einmal einen kleinen Schritt zurück in den Grenzbereich zwischen Tag und Nacht, jenen Zeitraum, in dem die Kleinsten ins Bett müssen. Sich von den Resten des Tages lösen, ruhig werden, in den Schlaf gleiten – das ist es, was Erwachsene von ihren Kindern am Rand der Nacht erwarten. Und zwar möglichst schnell. Nicht nur in den Geschichten ist jedoch von der Gelassenheit, mit der die romantische Nacht zumindest in der Poesie an Land steigt, oft wenig zu spüren. Das zeigt Andrea Kromoser, die einschlägige Bilderbücher gelesen hat: Nur noch eine Geschichte, nur noch ein Glas Wasser, nur "noch kurz die Ohren kraulen und ganz sanft den Rücken streicheln" (Jörg Mühle). Weil: Ich bin noch gar nicht müde.
Irgendwann aber schlafen tatsächlich alle (Kinder wie Erwachsene), und dann geht die Tür auf in eine literarische Welt, die nur im Dunkel der Nacht existiert. Susan Kreller überschreitet die Schwelle und begleitet zahlreiche Figuren auf ihren Ausflügen in realistische und magische Welten: Wache Träumer, verschworene Abenteurer, lichtscheue Gespenster, poetische Liebhaberinnen der Finsternis, von Albträumen Geplagte oder Trost Suchende.
Dass jenseits des Sonnenuntergangs andere Regeln gelten, zeigt auch Anna Stemmann, die mit literarischen Jugendlichen durch die Nacht zieht. Im Schutz der Dunkelheit sind nicht nur unerhörte Taten möglich, da lauern auch Ungeheuer und andere Gefahren. Wer diesen ausfransenden Zeit-Raum durchschritten hat, wird ein anderer sein – und jedenfalls auch klüger, weil: "Wissen ist Nacht", wie Käpt’n Blaubär bei Prof. Dr. Abdul Nachtigaller lernt.
Dass die Nacht nie nur schwarz ist, lehren Claudia Sackl und Silke Rabus, die durch freundliche wie unheimliche Bilderbuchräume spazieren, an der Seite gar nicht nachtschlafender Tiere, selbstbewusster und -bestimmter, aber auch angstgeplagter Kinder. Die Bilderbuchnacht ist ein zwielichtig bis buntes Wunderland, erleuchtet nicht nur vom Mond, sondern auch von Schnee, Straßenlaternen oder Leuchtreklamen.
Aber richtig hell ist es trotzdem nicht. Was einerseits zur Folge hat, dass man sich ziemlich leicht verirren kann, und zwar nicht nur im Wald, sondern auch in nachtschattigen großstädtischen Häuserschluchten. Das haben Carina Kargl und Peter Rinnerthaler in einer nachmitternächtlichen Diskussion herausgefunden. Und andererseits, meint Elisabeth von Leon, ist mit dem Thriller ein ganzes Genre gerade deshalb nachtaffin. Im Dunkeln fürchtet sich’s besser, weil man zu sehen meint, was man nicht sehen kann. Außer man hat übersinnliche oder Superkräfte. Dass wahres Sehen im Sinne einer tieferen Erkenntnis aber nicht zwangsläufig an der Beleuchtung liegt, weiß natürlich Heidi Lexe, die sich auf die Spur von blinden Sehern und sehenden Blinden gesetzt hat.
Bevor wir mit einem herzlichen oder schüchternen »Morning, Darling!« auf die lichte Seite zurückkehren, müssen wir nur noch einen Abstecher ins Traumland machen. Das, Christina Ulm beweist es, zur Nacht gehört wie die Dunkelheit. Danach tauchen wir endgültig wieder aus ihr auf. Und machen vor dem Tagesgeschäft der Rezensionen noch einen Abstecher in den Norden. Anlässlich einer Auszeichnung des schwedischen Bilderbuchkünstlers Stian Hole in Frankfurt hat Antje Ehmann nicht nur mit ihm über sein preisgekröntes »Morkels Alphabet« gesprochen, sondern auch mit seiner Übersetzerin und der deutschen Lektorin.
Dass nicht wenige der in dieser Ausgabe besprochenen Herbstneuerscheinungen zumindest teilweise auch in der Nacht spielen, werden Sie bei der Lektüre merken. Und dabei auch auf Arne Rautenbergs »gruselgedichte für mutige kinder« stoßen (S. 61): "auch dunkles will / durchdrungen sein / denn dunkles gibt / dem hellen schein." Damit ist alles gesagt – und mir bleibt nur noch, Ihnen einen guten Morgen zu wünschen!
Franz Lettner
REDEN WIR NICHT VOM TAGESLICHT
Susan Kreller über Darstellungen und Funktionen der Nacht im Kinderbuch
Die Nacht hält sich in Grenzen: vorne der Abend, hinten der Morgen, oben rechts der Mond. Doch so entschieden die dunklen Stunden auch von den hellen getrennt sein mögen, so sehr verlieren die Dinge innerhalb der Nacht ihre Umrisse und verwandeln sich, werden ungefähr und gefährlich – alles nichts für Kinder. Genau deshalb hat sich die Nacht auch seit über zwei Jahrhunderten in der Kinderliteratur eingerichtet und erfreut sich seit der literarischen Märchendichtung der Romantik als partieller Handlungszeitraum großer Beliebtheit. Die Nacht ist das verbotene Zimmer, die dunkle Kehrseite des vorgeblich Eindeutigen, Erleuchteten, sie kann Stille, Langsamkeit und Angst sein. Die Nacht ist die Zeit der Möglichkeiten, dient den Traurigen als Versteck und kann Kranke gesund und Gesunde krank machen. Poetisches gedeiht in dieser schwarzen, fruchtbaren Erde, Träume gehen auf und unter, und manchmal lässt sich das Geträumte nicht vom wirklich Erlebten unterscheiden. Wo Nacht ist, beginnen die Geschichten. Und manche Geschichten beginnen mit der Nacht.
PFORTE IN PHANTASTISCHE WELTEN. In der Kinderliteratur dienen nächtliche Einstiegsszenen oftmals als Pforten, durch die der Protagonist von einem mehr oder minder realistischen auf phantastisches Terrain gerät, etwa in Roald Dahls sprachgewaltigem Buch »Sophiechen und der Riese«. Gleich eingangs liegt die kleine Heldin im Schlafsaal eines von Dickens-Atmosphäre durchwehten Waisenhauses und kann nicht schlafen.
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